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Bild: Frank Magdans
Prozesse Produkt

Digitale Herstellerinformationen für die ProzessindustrieDas Matroschka-Prinzip

Die Unternehmen der produzierenden Industrie in Deutschland beschaffen jedes Jahr mehr als 5.000.000 technische Güter, um Produktionsanlagen instand zu halten, zu erweitern und neu zu bauen. Zu all diesen technischen Gütern gehören Herstellerunterlagen, die man während des gesamten Lebenszyklus des technischen Gutes zwingend benötigt.

Die eingangs genannten Herstellerunterlagen enthalten Informationen, die für die richtige Auslegung, Aufstellung, Inbetriebnahme, Ersatzteilbevorratung, Bedienung, Reinigung, Inspektion, Wartung und Instandsetzung erforderlich sind. Darüber hinaus gibt es gesetzliche Bestimmungen, die das Vorhandensein bestimmter Herstellerunterlagen vorschreiben. Um seine Betreiberpflichten wahrzunehmen, muss ein Betreiber also für jede seiner technischen Anlagen eine lückenlose Dokumentation vorliegen haben.

Damit stehen Anlagenbetreiber und Engineering-Dienstleister regelmäßig vor der Herausforderung, große Mengen an Produktdokumentation verarbeiten zu müssen, die sie im Rahmen von Anlagenbau-Projekten von Geräteherstellern erhalten. Die Konsolidierung und Integration dieser Dokumentation in die Systeme des Betreibers ist mit erheblichen Aufwänden verbunden, vor allem wenn die Daten in unterschiedlichen Formaten und Strukturen vorliegen. Bei großen Projekten geht es dabei um hunderttausende von Einzeldokumenten. 

Die VDI-Richtlinie 2770 bietet sowohl Anlagenbetreibern und Dienstleistern als auch Herstellern die Chance, einen Schritt in Richtung Automatisierung dieser mühsamen Arbeitsabläufe zu machen. Neben den Informationsaustauschplattformen (IEP – Information Exchange Platform) und der automatischen Identifikation von Produkten (DIN SPEC 91406), ist die VDI-Richtlinie 2770 eine von drei Schlüsseltechnologien der digitalen Datenkette, deren Umsetzung KROHNE auch im Rahmen des Digital Data Chain Consortium unterstützt. Das Konsortium setzt sich zusammen aus Anlagenbetreibern der Prozessindustrie, Technologielieferanten und technischen Dienstleistern. Die Arbeitsgemeinschaft erarbeitet Standards und Plattformen für den Informationsaustausch. 

Was leistet die VDI-Richtlinie 2770?

Die VDI-Richtlinie spezifiziert Format und Struktur von maschinen-verarbeitbaren Dokumenten-Containern. Alle zu einem Produkt gehörenden Dokumente werden als PDF-Datei in einem ZIP-Ordner verpackt, wobei jedem Dokument eine XML-Datei mit Meta-Information an die Seite gestellt wird. 

Diese Meta-Informationen beschreiben Inhalt und Bezug des Dokumentes. Sie decken damit die wesentlichen Merkmale ab, die für eine maschinelle Weiterverarbeitung notwendig sind. Zu den Meta-Informationen gehören unter anderem die Klassifikation des Dokument-Typs, Angaben zur Sprache und zum Revisionsstand sowie Referenzen auf das beschriebene Produkt und dessen Hersteller. 

Dabei folgt die Dokumentation einer Produktionsanlage dem „Matroschka-Prinzip“, denn sozusagen im „Bauch“ des Zip-Ordners der Anlage stecken die Zip-Ordner der nachgeordneten Apparate, Komponenten und Bauteile gegebenenfalls bis hinunter zur Produktdokumentation der einzelnen Schraube.

Wer profitiert von der Umsetzung der Richtlinie?

Wenn Dokumente zuverlässig mit dieser immer gleichen Struktur, Formatierung und Meta-Information übergeben werden, kann der Prozess zum Einpflegen dieser Dokumente in die Systeme des Anlagenbetreibers automatisiert werden. Die VDI-Richtlinie 2770 wird ergänzt durch etablierte Standards wie DIN SPEC 91406 (zukünftig IEC 61406), die die eindeutige Identifikation und damit Zuordnung zu bestimmten Geräten erlauben und damit die praktische Anwendung vereinfachen.

Aber nicht nur Betreiber profitieren von einer einheitlichen Daten- und Dokumentenübergabe. Auch Hersteller können ihre Aufwände für das Zusammenstellen der Dokumentation erheblich verringern, wenn die Übergabe kundenübergreifend in einem einheitlichen Format erfolgt. Durch Verwendung eines gut definierten Standards steigt die Datenqualität, und es sind weniger Korrekturen und Iterationen bei der Übergabe der Daten notwendig. Wichtige Voraussetzung für eine Umsetzung der Einsparungspotentiale ist daher eine möglichst breite Unterstützung des Standards auf beiden Seiten. 

Anwendung und Herausforderungen in der Praxis

Im Hinblick auf eine praktische Implementierung des Standards sind mit Blick auf die innerbetrieblichen Datenflüsse jedoch einige Randbedingungen zu beachten:

  1. Dokumentations-Container nach VDI 2770 können zwar mit Unterstützung durch Software-Tools manuell zusammengestellt werden, jedoch lassen sich Effizienzgewinne nur über eine automatisierte Erzeugung umsetzen. Dies setzt voraus, dass die für den Container bestimmte Dokumentation inklusive aller benötigten Meta-Informationen in einer maschinen-verarbeitbaren Form vorliegt und über Daten-Schnittstellen für eine automatisierte Verarbeitung verfügbar gemacht werden kann. 
     
  2. Neben der IT-Architektur spielt auch der Reifegrad des Datenmodells, mit dem man die Dokumentation in den Systemen des Herstellers verwaltet, eine entscheidende Rolle. Die Meta-Informationen eines Dokumentes müssen spezifisch genug sein, um eine präzise Zuordnung zwischen Dokument und Produktkonfiguration zu erlauben. Nur so ist gewährleistet, dass der erzeugte Dokumenten-Container keine überflüssigen Informationen enthält und exakt zum Produkt passt. Nicht zuletzt muss auch der Lebenszyklus von Produkt und Dokument Berücksichtigung finden. 
     
  3. Neben der zuverlässigen Integration von Dokumenten aus allen relevanten Quellen des Unternehmens, stellt sich auch die Frage nach der Verfügbarmachung von Altbeständen. Die Meta-Informationen älterer Dokumente erfüllen oft nicht sämtliche Anforderungen für eine reibungslose Verarbeitung. In Einzelfällen lassen sich diese Lücken über Ansätze in puncto machine learning automatisiert füllen. Dort wo dies nicht möglich ist bleibt nur eine manuelle Nachbearbeitung, die mit erheblichen Aufwänden verbunden sein kann. Ein Fallstrick kann dabei auch die strickte Forderung der Richtlinie nach bestimmten PDF/A-Konformitätsgraden sein, die sich nicht ohne weiteres erreichen lassen, wenn die Dokumente nicht noch im bearbeitbaren Originalformat greifbar sind. 
     
  4. Die VDI-Richtlinie 2770 macht keine Vorgaben zur Übergabe der Daten, daher stehen grundsätzlich alle Wege offen. Das Unternehmen KROHNE stellt die Dokumenten-Container derzeit für alle seine Kunden über ein eigenes Portal zur Verfügung. So erhalten Kunden über die Seriennummer ihres Gerätes auch Zugang zu Dokumentation, Auslegungsdaten und Service-Videos. Darüber hinaus bietet das Unternehmen seinen Kunden auch eine Datenschnittstelle an, über die Dokumenten-Container bei Bedarf auch vollautomatisch mit den Systemen des Anlagenbetreibers ausgetauscht werden können. Einen Mittelweg stellen Austauschplattformen dar über die Hersteller, Dienstleister und Anlagenbetreiber ihre Daten miteinander teilen. 

Unser Autor

Benedikt Niermann, Process Improvement Officer, KROHNE Messtechnik GmbH

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