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Nach einem 12-Stunden-Flug von Frankfurt nach São Paulo freue ich mich auf eine Dusche und eine kurze Ruhepause im Hotel, bevor der erste Termin ansteht. Es ist 05:30 Uhr, und der einstündige Transfer vom Flughafen ins Hotel steht mir noch bevor. Erstaunt von den Blechlawinen und dem Verkehrsaufkommen um diese Zeit sage ich in bestem Portugiesisch zur Fahrerin: „Mucho tráfico!“, was „Viel Verkehr!“ bedeutet. Sie vergibt mir den sprachlichen Patzer, lächelt und sagt, das sei gar nichts: „Mais tarde será muito mais!“, also später werde es noch viel mehr ...
Während einer Fahrt, bei der mein Rückgrat die Rolle der verschlissenen Stoßdämpfer übernehmen muss, nehme ich weitere Eindrücke auf: Das Benzin kostet umgerechnet einen Euro pro Liter, eine Fahrt mit dem ÖPNV etwa 80 Cents. Auf den ersten Blick ein Schlaraffenland! Allerdings: Die Infrastruktur ist offensichtlich überfordert. Das Wasser in den Zuläufen aus dem Umland ist verschmutzt und stinkt furchtbar. Überall sind Müllsammler mit Handkarren unterwegs!
Das sind für mich keine vollkommen neuen Erfahrungen. Denn schon als Student war ich mehrmals in Afrika und Asien, später beruflich wieder. São Paulo besuche ich auch nicht zum ersten Mal. Allerdings war das Thema Nachhaltigkeit mir früher nicht so präsent wie heute. In unserer Gesellschaft ist es mittlerweile so zentral, dass ich sofort beginne, darüber nachzudenken: Wie nehmen die Menschen hier das Thema wahr? Wie sensibilisiert sind sie dafür? Und welchen Stellenwert hat es im Alltag?
Der Primat der Armutsbekämpfung
Schon bei meinem ersten Termin im Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH), bei dem ich unter anderem eine alte Studienkollegin wiedertreffe, spreche ich das Thema an. Die Runde bietet sich an, denn es sind Deutsche und Brasilianer anwesend, die unterschiedliche Perspektiven haben. Hier erfahre ich, dass das Durchschnittseinkommen in Brasilien bei rund 500 Euro pro Monat liegt.
Armutsbekämpfung steht für die Regierung Lula an erster Stelle. Dennoch hat sie den Umweltschutz in den Fokus gerückt, nachdem die Vorgängerregierung dem Wirtschaftswachstum uneingeschränkt Vorrang eingeräumt hatte. Brasilien ist beim Thema Nachhaltigkeit Hoffnungsträger auf dem Kontinent. Solarenergie und grüner Wasserstoff sind wichtige Themen.
Der soziale Faktor
Wenn wir uns die Nachhaltigkeitsziele der UN anschauen, beschäftigen wir uns in den Industriestaaten viel mit den technischen Lösungen. Natürlich reden wir auch über Kosten, etwa beim Heizungsgesetz. Wir diskutieren und agieren aber auf einem vollkommen anderen Niveau. Die UN SDGs beinhalten auch Ziele wie „Keine Armut“, „Kein Hunger“, „Gute Bildung“ und „Sauberes Wasser und Sanitärversorgung“.
Das hat einen guten Grund: Wo Menschen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, schlechte berufliche Perspektiven haben und sich jeden Tag die Frage stellen müssen, wie sie die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wasser und einem Dach über dem Kopf erfüllen können, tritt Nachhaltigkeit in den Hintergrund. Das ist ein Phänomen, das den Industriestaaten historisch nicht fremd ist und in abgeschwächter Form bis heute wirkt!
Klimawandel am eigenen Leib erfahren
Dennoch unterscheidet sich die Historie der Industriestaaten von der der Schwellenländer. Die Folgen des Klimawandels machen sich in Brasilien bereits deutlich bemerkbar. In Kombination mit den sozialen Herausforderungen sind sie verheerend. Überflutung trifft die Ärmsten, ganze Teile der Bevölkerung verlieren ihre Lebensgrundlage!
Wie in den Industriestaaten verstehen die Menschen, dass gehandelt werden muss. Wie zum Beispiel in Deutschland sind sie im Zwiespalt. Wie lassen sich Ökonomie und Ökologie vereinbaren! Nur der Handlungsspielraum der einzelnen Personen ist hier wegen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme meist deutlich geringer. Der Preis bleibt der entscheidende Faktor! Im Zweifel zieht man ökonomischen Erfolg dem Umweltschutz vor!
Offenheit für Kooperationen
Beim Brasilianisch-Deutschen Ingenieurtag steht dann neben Digitalisierung eben auch Dekarbonisierung im Zentrum. Denn auch in Brasilien spüren die Unternehmen den Anpassungsdruck. Entweder aufgrund der regulatorischen Maßnahmen der Regierung oder aufgrund der veränderten Anforderungen der Kunden hier und in Übersee. Ähnlich wie in den USA versucht man in Brasilien eher Anreize zu schaffen, um Kunden für nachhaltige Lösungen zu gewinnen. Gesetzliche Maßnahmen sind wegen der Stärke der Unternehmen, etwa des mächtigen Agrosektors, nur bedingt geeignet, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Offenheit besteht gegenüber Wissen- und Technologietransfers, besonders auch aus Deutschland – eine Chance für beide Seiten!
In Brasilien ist der Umgang der Menschen miteinander trotz des Päckchens, das jede Person zu tragen hat, überwiegend freundlich. Vielleicht gerade auch wegen des Bewusstseins dafür, dass wir zusätzlich zu den globalen Problemen alle auch vor individuellen Herausforderungen stehen. Im Alltag lassen sich die Menschen die Freundlichkeit und Lebensfreude nicht nehmen … – und beim Feiern schon gar nicht! Die Resilienz von Gesellschaften zeigt sich eben in ganz vielen verschiedenen Facetten. Das sollten wir uns öfter vergegenwärtigen! Was den Umgang mit den großen und kleinen Herausforderungen angeht, können wir in Deutschland viel von anderen Kulturen lernen!
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