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Selbstständigkeit. Das birgt in jedem Beruf zahlreiche Risiken, aber auch Chancen. Nicht alle sind mutig genug, sie zu sehen und den Schritt in die berufliche Unabhängigkeit zu wagen. Ingenieurinnen und Ingenieure, die immer schon genau das tun wollten, was ihnen wirklich Spaß macht und was sie gut können, ohne Weisungen von oben, die sollten weiterlesen. Alle anderen ebenso, denn entweder fühlen sie sich bestärkt in ihren Bedenken oder bekommen vielleicht doch den einen oder anderen Denkanstoß in Richtung Selbstständigkeit.
Was sagen die Zahlen?
Laut einer Studie des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung kommen – bezogen auf das Jahr 2018 – in Deutschland auf 100 Beschäftigte nur rund vier selbstständige Ingenieurinnen und Ingenieure. Im Vergleich mit anderen Industrieländern ist das knapper Durchschnitt. Spitzenreiter ist Belgien mit zehn, Schlusslicht ist Frankreich mit gerade mal einer im Ingenieurbereich selbstständig arbeitenden Person pro 100 Beschäftigten.
Ingo Rauhut betreut den Fachbeirat Beruf und Arbeitsmarkt im VDI und kann auf die Zahlen vom Mikrozensus zurückgreifen, der größten jährlichen Haushaltsbefragung in Deutschland: Demnach waren im Jahr 2018 rund 164.000 Ingenieure selbstständig oder freiberuflich tätig – das sind knapp sieben Prozent aller 2,4 Millionen Ingenieure in Deutschland. Zieht man die nicht Angestellten im Baubereich ab – hier liegt der Anteil einer selbstständigen oder freiberufliche Tätigkeit höher, als in anderen Branchen – verbleiben knapp 104.000 Frauen und Männer. Nach einer kräftigen Wachstumsphase bis etwa zum Jahr 2010 ist der Anteil der selbstständigen Ingenieure in Deutschland langsam, aber beständig zurückgegangen. Dies folgt einem europaweiten Trend.
In welchen Branchen arbeiten Selbstständige?
Die überwiegende Zahl der selbstständigen Ingenieurinnen und Ingenieure arbeitet in der Baubranche. Mit 41.000 selbstständig arbeitenden Personen machen die Bauingenieurbüros den größten Anteil aus, wie die Statistik der Bundesingenieurkammer aus 2018 belegt. Bei den Kern-Ingenieurdisziplinen verteilt sich die Selbstständigkeit 2018 wie folgt (Rundungswerte): 28.000 im Maschinenbau, 23.000 in der Elektrotechnik, 27.000 in der Informatik und im Bereich Chemie-, Umweltschutz- und Wirtschaftsingenieure 26.000.
Freiberuflich Tätige finden sich vor allem in der Informationstechnik oder bei der Beratung und im Coaching. Erst kürzlich haben wir unser Mitglied Bodo Ikinger, selbstständiger Karrierecoach, hier im VDI-Blog portraitiert. Ein gutes Beispiel dafür, dass der richtige Mix aus Erfahrung und Mut zu großer beruflicher Zufriedenheit und damit auch zum Wohle vieler weiterer Menschen führen kann.
Welchen Einfluss haben Selbstständige auf Innovationen und das Wirtschaftswachstum?
Lassen wir hier jemanden zu Wort kommen, der es aus eigener Erfahrung weiß: Markus Gentzsch ist selbstständiger Ingenieur der Elektrotechnik. Mit seinem Ingenieurbüro Idea-Automotive berät er seit fast 30 Jahren Automobilzulieferer, wenn es um Elektrik, Elektronik und Bordnetze im Fahrzeug geht. „Selbstständige Ingenieure sind wichtige Innovationstreiber für den Standort Deutschland“, so Gentzsch, denn „sie verfügen über ein breites Wissen und viel Erfahrung. Sie sind außerdem in hohem Maße kreativ, haben systemübergreifendes Verständnis gepaart mit ausgeprägter Lösungsorientierung und vereinen, wie keine zweite Berufsgruppe, technische und betriebswirtschaftliche Kompetenz.“
Gentzsch betont, ihr Einfluss auf Innovationen und das Wachstum sei hoch – zumindest theoretisch, schließlich könne der Wirtschaftsstandort Deutschland von hochqualifizierten Selbstständigen deutlich mehr profitieren als dies aktuell der Fall sei. Dazu müsse zunächst ein stärkeres Bewusstsein für die Herausforderungen geschaffen werden, vor denen selbstständige Ingenieurinnen und Ingenieure in unserem Land ständen.
Wie wirken sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen aus?
Bisher wird mehr gehemmt als gefördert. Zu diesem Ergebnis kommt auch die bereits zitierte Ifo-Studie. Demnach vergibt Deutschland Chancen des Wirtschaftswachstums durch zu wenige selbstständige Ingenieurinnen und Ingenieure. Und seit der Änderung beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Jahr 2011 vom Schutz gegen Ausbeutung hin zu einer mehr arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung und den neuen Regelungen zur Scheinselbstständigkeit im Jahr 2017 ist die Zahl der Selbstständigen weiter zurückgegangen.
Stattdessen werden viele dieser Personen in die Leiharbeit gedrängt, da vor allen Dingen große Unternehmen keine Solo-Selbstständigen mehr beauftragen – die Sorge vor Problem mit den Behörden ist zu groß. Selbstständige fühlen sich unter Generalverdacht; und der Trend setzt sich fort, dass kreative Köpfe mit innovativen Projekten ins Ausland abwandern, so wie vor einigen Jahren Markus Gentzsch mit seinem Ingenieurbüro die Konsequenzen für sich gezogen und bis heute nicht bereut hat. Ein Grund dafür ist die undurchsichtige Gesetzeslage des Statusfeststellungsverfahrens, mit dem die Deutsche Rentenversicherung festlegt, ob jemand selbstständig oder angestellt, also abhängig beschäftigt ist. Erkennt sie auf „scheinselbstständig“ besteht eine Sozialversicherungspflicht, Beiträge sind gegebenenfalls rückwirkend zu zahlen.
Im vergangenen Jahr hat der Bundestag in einem Hau-Ruck-Verfahren Änderungen am Statusfeststellungsverfahren beschlossen, die den Erwerbsstatus in den Vordergrund stellen, nicht die Versicherungspflicht. Diese griffen laut dem Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland e.V. (VGSD) jedoch nicht weit genug. Zu wenig präzise seien die Gesetzesänderungen und die Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten bliebe bestehen. Der Diskurs mit der Politik muss deswegen fortgesetzt werden.
Was tut der VDI?
Der VDI hat für seine Mitglieder einen Leitfaden zur Unternehmensgründung zusammengestellt, der alle Informationen rund um die Themen Businessplan, Finanzierung, Gründung, Recht, Steuern und Patente sowie Marketing und Vertrieb enthält. Darauf aufbauend hat jedes VDI-Mitglied Anspruch auf eine Gründerberatung: unter https://www.vdi.de/mein-vdi/intern/karriere/gruenderberatung kann ein kostenloses, qualifizierte Erstgespräch gebucht werden.
Im September 2020 ist das Policy Factsheet zur Solo-Selbstständigkeit erschienen, herausgegeben vom Fachbeirat Beruf und Arbeitsmarkt im VDI. Er fordert darin, die rechtlichen und bürokratischen Hürden auf dem Weg in die Selbstständigkeit abzubauen und den Markt für selbstständige und freiberufliche Ingenieurinnen und Ingenieure dadurch nicht länger unnötig auszudünnen.
Ein Blick auf die Historie des VDI zeigt, dass seine Gründungsväter überwiegend Bildung und Unternehmertum vereinten und nicht in der Großindustrie tätig waren: Euler, Lezius, von Kankelwitz, um nur drei Namen zu nennen. Ein Grund mehr, selbstständigen und freiberuflichen Ingenieuren mehr Gewicht und Gesicht zu geben.
… und zum Schluss noch ein paar praktische Tipps
Herr Gentzsch gibt aus seiner eigenen beruflichen Erfahrung zehn Tipps, was Ingenieurinnen und Ingenieure beachten sollten, bevor sie den Schritt in die Selbstständigkeit wagen:
- Eigene Kompetenzen kritisch hinterfragen: Bin ich geeignet für die Selbstständigkeit? Was kann ich dem Markt bieten?
- Aus bestehenden Produkten oder Ideen, die so noch nicht verknüpft worden sind, ein neues Produkt kreieren.
- Wenn die Geschäftsidee steht, erst mal intensiv den Markt beobachten, ober er dafür offen und reif ist.
- Auf keinen Fall in den direkten Wettbewerb mit etablierten „Platzhirschen“ treten, sondern etwas Einzigartiges, eine Nische finden, die von den „Platzhirschen“ noch nicht besetzt ist. Dort bietet sich der größte Freiraum für gestalterische Möglichkeiten.
- Preiskampf allein ist kein Mittel und führt zur Selbstausbeutung.
- Fachzeitschriften und Pressemitteilungen lesen, Personalia in der Wirtschaft verfolgen: es finden sich so Personen mit neuen Zielen, zu denen die eigene Idee passt.
- Businessplan und Konzept erstellen:
- Mindestanforderungen formulieren (Finanzen, technische und personelle Ausstattung),
- mit IHKs und Kreditinstituten in Kontakt treten,
- Treffen und Austausch mit anderen Selbstständigen für Ideen und Erkenntnisse suchen,
- Bestätigung einholen, dass der geplante Weg richtig ist, und immer wieder hinterfragen,
- Unternehmensberatung einschalten (unter anderem für eine anonyme Marktbeobachtung) - Schritt für Schritt Vertrauen des Marktes erarbeiten (laut Gentzsch eine der schwierigsten Aufgaben!)
- Von Krisen wie der Corona-Pandemie nicht demotivieren lassen, sondern als Chance sehen: Alles wird hinterfragt, neu aufgestellt und bietet damit neue Positionierungsmöglichkeiten am Markt.
- Verinnerlichen, dass eine Idee immer nur für ein paar Jahre gut ist; danach heißt es weiterentwickeln und innovativ bleiben.
Kommentare
Inzwischen haben 5 Leser einen Kommentar hinterlassen.Mitte der 1990er-Jahre habe ich als selbständiger Berater im Bereich Informatiosmanagement (Datenbankrecherchen, Design von Literatur- & Patentdatenbanken ...) angefangen. Zu dieser Zeit kam das Internet auf und es gab hier viel Beratungs- und Handlungsbedarf. Im Lauf der Jahre hat sich mein Betätigungsfeld sehr gewandelt, hin zu Patentrecherchen in Online-Datenbanken. Das Thema Literatur wurde i. allg. von den Entwicklern in den Firmen selbst übernommen. Im Patentbereich wurden die Anfragen in den letzten Jahren immer weniger. Evtl. liegt und lag das auch an den veränderten gesetzlichen Vorgaben betreffs Single-Selbständigen. Daher war ein permanentes Anpassen an die "Marktsituation" nötig. Jetzt bin ich in einem Alter, in dem das Arbeitsleben ausklingt und jüngere, mehr IT-kundige Menschen oder auch größere Firmen den Markt übernehmen.
Der Artikel ist ein schöner und passender Überblick! Trotz der traurigen gesetzlichen Rahmenbedingungen und einer derzeit auch sonst eher schwierigen Umwelt ist Selbständigkeit (bei mir zu Projektleitung und Consulting im IT-Bereich) die Art der Berufsausübung, die ich persönlich weiterhin bevorzuge. Wünschenswert wäre, dass wir wieder mehr statt weniger werden!
Als externer Berater und Projektleiter bin ich in den Themen Organisationstransformation, Projektaufbau, Krisenmanagement gewollt im Einvernehmen mit dem Kunden nur eine begrenzte Zeit (max. zwei Jahre) auf Projektbasis im Unternehmen. Das Unternehmen profiltiert durch viele externe Erfahrung, Erfüllung von kurzfristigen Ressourcenbedarfen und einer gewissen Unabhängigkeit (als Externer darf ich manche kritische Themen zur Sprache bringen im Gegensatz zu Internen). Die Politik bremst diesen Innovationsschub durch unpassende, von Schlachthof-Arbeitnehmer-Mißbräuchen abgeleitete Gesetze und massive Unterstellungen gegen das Geschäftsmodell und die Vertragsfreiheit des Anbieters und Käufers der Leistungen.
Vielen Dank, Frau Quack, für Ihren Beitrag! Ich freue mich, dass wir freiberuflich oder anders selbständig tätige Ingenieure und unser Potential für Gesellschaft und Wirtschaft beachtet werden.
Vielen Dank auch an Herrn Gentzsch und Herrn von den Driesch für ihr beherztes Engagement im VDI und darüber hinaus, das ich dankbar verfolge!
Ich kann mich den Darstellungen nur anschließen:
1. Ich bin mit Herz und Verstand sehr gerne selbständig, als Ingenieur alleine, und ein paar Jahre in einer anderen Branche auch mit rund 20 Mitarbeiter/inne/n.
2. Die Rahmenbedinungen für Selbständige ohne Angestellte muten mitunter als skuril über abstrus bis hin zu geschäftsschädigend an. Halfen mir in den 90er Jahren den damals gültigen 5-Kriterien zu genügen, hängt heute über jedem Auftrag das Damoklesschwert in Form der "Prüfungskriterien" der DRV ohne dass ich mich auf rechtsichere Kriterien oder gar Gesetze berufen könnte.
Ich habe 2006 mein Ein-Mann-Ingenieurbüro mit Mitte 40 gegründet und unterstütze mittelständische Unternehmer bei der Optimierung ihrer Geschäftsprozesse in Entwicklung, Konstruktion, Fertigung. Bis heute habe ich diesen Schritt nicht bereut. Nur die Rahmenbedingungen wurden komplexer, da "die Politik" immer mehr Knüppel zwischen die Beine wirft. Trotzdem: immer wieder!
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